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Seltene Erkrankungen (Orphan Diseases)
Was sind seltene Erkrankungen (Orphan Diseases)?
Als seltene Erkrankungen gelten in Europa jene Krankheiten, von denen weniger als 5 von 10.000 Einwohnern betroffen sind. Die im Englischen gebräuchliche Bezeichnung für eine seltene Krankheit ist „Orphan Disease“, was so viel wie „Waisenkrankheit“ bedeutet. Dies deutet bereits auf die Probleme hin, mit denen viele Betroffene zu kämpfen haben: Mit einer seltenen Erkrankung fühlt man sich oft alleingelassen. Bis ein fachkundiger Arzt gefunden ist, der die richtige Diagnose gestellt hat, kann es teilweise Jahre dauern – manchmal erweist es sich sogar komplett unmöglich, bei seltenen Erkrankungen die jeweiligen Symptome richtig einzuordnen. Auch effektive Therapiemöglichkeiten stehen oft nicht zur Verfügung. Im Gegensatz zu den „Volkskrankheiten“ wie Diabetes mellitus oder Arterienverkalkung (Arteriosklerose) steckt aufgrund der geringen Patientenzahlen bei seltenen Erkrankungen die Forschung und Entwicklung von Medikamenten oft noch in den Kinderschuhen.
Als „Orphan Diseases“ bezeichnet man in der Regel chronisch verlaufende Erkrankungen. Viele von ihnen sind erblich bedingt. Dabei können sämtliche Bereiche des Körpers betroffen sein: Ob ein fehlendes Enzym im Stoffwechselprozess, eine fehlerhafte Signalübertragung im Nervensystem oder eine seltene Form von Krebs – seltene Erkrankungen haben viele Gesichter. Als Folge solcher Störungen können Herz oder Lunge, Knochen oder Bindegewebe in einer außergewöhnlichen Form erkrankt sein.
Oft verwechselt selbst ein erfahrener Arzt die Symptome einer seltenen Erkrankung mit dem Erscheinungsbild einer häufigeren. So ähnelt die vererbte Knochenkrankheit Hypophosphatasie, von der nur etwa einer von 100.000 Menschen betroffen ist, in ihrem Erscheinungsbild verschiedenen Erkrankungen der Knochen, zum Beispiel Osteoporose (Knochenschwund) oder Rachitis. Hypophosphatasie jedoch beruht aber auf einer ganz anderen Ursache – einem bestimmten Gendefekt – und muss auch anders behandelt werden. Entsprechend sind bei seltenen Erkrankungen oft viele Untersuchungen durch Fachärzte notwendig, bis eine sichere Diagnose getroffen werden kann. Durch Gentests können heute immerhin viele Defekte im Erbgut erkannt werden, was bis vor wenigen Jahrzehnten nicht denkbar war.
Was sind typische Erscheinungsformen von seltenen Erkrankungen (Orphan Diseases)?
Seltene Erkrankungen können im Prinzip sämtliche Bereiche des Körpers betreffen. Dennoch lassen sich viele Erscheinungsformen in Gruppen zusammenfassen, zum Beispiel:
Seltene Stoffwechselstörungen
Unter den seltenen Erkrankungen bilden Stoffwechselstörungen eine relativ große Gruppe. Etwa 80.000 Menschen in Deutschland leiden unter einer seltenen Stoffwechselkrankheit. Dazu zählen zum Beispiel die Lysosomalen Speicherkrankheiten wie Morbus Fabry oder Morbus Pompe. Durch einen genetischen Defekt ist bei diesen Erkrankungen ein Enzym in seiner Aktivität herabgesetzt, was bedeutet, dass in den Körperzellen bestimmte Stoffe – etwa Fette, Eiweiße oder Speicherformen des Zuckers – nicht abgebaut werden können. Sie lagern sich nach und nach in den Organen, Knochen oder Muskeln ab – deshalb „Speicherkrankheiten“ – und führen somit zu langfristigen Schäden.
Auch bei seltenen Störungen des Eiweiß-Stoffwechsels, zum Beispiel Homocystinurie oder Alkaptonurie, fehlen bestimmte Enzyme. Dadurch kommt es zu einem Überschuss von bestimmten Abbauprodukten, die den Körper schädigen. Der Transport von Aminosäuren, aus denen sich Eiweiße zusammensetzen, kann gleichermaßen zum Problem werden, etwa bei der Hartnup-Krankheit. Das Problem ist hier ein fehlendes Eiweiß, das für den Transport von Aminosäuren durch die Zellwände zuständig ist. Auch Störungen des Kupferstoffwechsels (Morbus Wilson) und vieler anderer Abbau-, Umbau- und Verwertungsabläufe im Körper sind möglich.
In fast allen Fällen sind seltene Stoffwechselstörungen vererbt und beruhen auf einem Fehler in der Erbinformation (Gendefekt); einige können jedoch auch in Folge anderer Krankheiten auftreten. Sie äußern sich in sehr verschiedenen und oft wenig spezifischen Beschwerden, sei es im Muskel- und Skelettsystem, in Leber, Lunge oder anderen Organen. Meist lassen sich seltene Stoffwechselstörungen nicht ursächlich behandeln, doch bei einigen können die Symptome durch spezielle Diäten und Medikamente gelindert werden.
Seltene Krebsformen
Nahezu jeder Mensch weiß von jemandem in seinem Umfeld, der mit einer Krebserkrankung zu kämpfen hat oder hatte. Erkrankungen wie Darmkrebs, Lungenkrebs und Brustkrebs sind vollkommen im gesellschaftlichen Bewusstsein angekommen und werden seit Jahrzehnten immer weiter erforscht. Doch es gibt auch seltene Krebsformen, bei denen bereits die Diagnose schwierig sein kann.
Nur 0,5 Prozent der Krebsdiagnosen gehen zum Beispiel auf Morbus Hodgkin zurück, eine Form des Lymphdrüsenkrebses. Oft erkranken Kinder und Jugendliche, deren Prognose dank fortschrittlicher Therapieverfahren inzwischen jedoch gut ist. Auch andere Formen von Lymphdrüsenkrebs, wie die verschiedenen T-Zell-Lymphome, sind so selten, dass sie oft erst spät erkannt werden.
Manchmal entwickeln sich Tumoren an untypischen Stellen, wie etwa das Subglottische Larynxkarzinom – ein Kehlkopfkrebs unterhalb der Stimmlippen. Doch nicht nur die Lage eines Tumors kann ihn zu einer seltenen Krebsform machen. In der Lunge, im Bauchraum und in nahezu allen anderen Körperregionen können auch bösartige Tumoren auftauchen, die aus Weichteilgewebe entwickelt haben – sogenannte Weichteilsarkome – und auch hier gibt es noch seltenere Unterformen, zum Beispiel Inflammatorische myofibroblastische Tumoren (IMT).
Seltene neurologische Erkrankungen
Das Spektrum der seltenen Nervenkrankheiten ist ausgesprochen breit. Zu ihnen zählen beispielsweise Spinozerebelläre Ataxien (SCA), Bewegungsstörungen, die auf eine Erkrankung des Kleinhirns zurückgehen. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten bei der Koordination, vor allem beim Stehen und Gehen, und oft sind auch Augenbewegungen und das Sprechen gestört. Auslöser von SCA sind eine Reihe verschiedener Mutationen im Erbgut.
Eine andere neurologisch bedingte Bewegungsstörung ist die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Von 100.000 Menschen erkranken etwa einer bis drei pro Jahr an ALS – meist sind sie zwischen 50 und 60 Jahren alt, aber es gibt auch deutlich jüngere Betroffene. Bei ALS sterben nach und nach die Nervenzellen ab, die die Muskelbewegungen steuern. So kommt es zu Lähmungen und Muskelzuckungen, während die Muskulatur sich immer weiter zurückbildet.
Ähnlich selten tritt das Guillain-Barré-Syndrom (idiopathische Polyneuritis) auf. Bei dieser Krankheit entzünden sich die Nervenwurzeln im Rückenmark und an anderen Körperstellen. Nach anfänglichen Rücken- und Gliederschmerzen kommt es zu Kribbeln und Lähmungen, meist in den Beinen. Auch die Regulation von Herz und Lunge kann beim Guillain-Barré-Syndrom aus dem Rhythmus geraten. Wie bei vielen seltenen Nervenkrankheiten ist die Ursache der Erkrankung unklar.
Andere seltene Erkrankungen
Die genannten Gruppen erfassen nur bestimmte Teilbereiche der seltenen Erkrankungen. Eine weitere wichtige Gruppe stellen beispielsweise die Blutgerinnungsstörungen dar, bei denen einer oder mehrere Gerinnungsfaktoren – spezielle Eiweiße im Blutplasma – ausfallen. Neben einem Mangel an Faktor II, Faktor IV, Faktor V und Faktor VIII sind auch kombinierte Formen oder ein sehr seltener Faktor-XI-Mangel möglich. Je nach fehlendem Gerinnungsfaktor besteht ein erhöhtes Risiko für Thrombosen (Blutgerinnsel) oder es kommt zur sogenannten Bluterkrankheit (Hämophilie).
Zudem gibt es eine ganze Reihe an seltenen Augenkrankheiten, zum Beispiel erbliche Netzhauterkrankungen. Dabei gehen Sehzellen (Zapfen und Stäbchen) zugrunde. Auch die Haut kann von seltenen Erkrankungen betroffen sein, etwa einer Form der Sklerodermie, bei der die Haut verhärtet, oder einer Mastozytose, bei der sich eine bestimmte Form von Abwehrzellen in der Haut anhäuft. Beide Erkrankungen können neben der Haut auch die inneren Organe befallen.
Behandlung: Wie können seltenen Erkrankungen (Orphan Diseases) behandelt werden?
Medikamente, die gezielt zur Behandlung seltener Erkrankungen eingesetzt werden, bezeichnet man als „Orphan Drugs“. Für sie gelten es auf dem Arzneimittelmarkt etwas andere Regelungen als für andere Medikamente – so sind etwa die Auflagen für ihre Zulassung weniger streng und der Patentschutz ist länger gültig. Dies hat den Hintergrund, dass es bei seltenen Erkrankungen zu wenige Patienten für groß angelegte Studien gibt, welche normalerweise zur Zulassung von Medikamenten vorausgesetzt werden. Orphan Drugs zu erforschen und entwickeln wäre für die Pharmaunternehmen ohne gelockerte Auflagen zudem schlicht nicht wirtschaftlich. Die veränderten Auflagen schaffen dafür Anreize.
In Europa gilt ein Medikament als Orphan Drug, wenn es gegen eine Erkrankung eingesetzt wird, an der pro Jahr weniger als 5 von 10.000 Menschen erkranken. Ein Großteil der vorhandenen Orphan Drugs wird zur Bekämpfung von Stoffwechselstörungen oder seltene Krebsformen eingesetzt. Auch einige Wirkstoffe, die eigentlich für die Behandlung häufiger Erkrankungen entwickelt wurden, sind zusätzlich für seltene Erkrankungen zugelassen. Dennoch gibt es nach Schätzungen weltweit 4.000 bis 5.000 Krankheiten, gegen die noch keine Medikamente zur Verfügung stehen.
Je nach Krankheitsbild bieten sich neben den Orphan Medikamenten natürlich auch andere Therapieformen an, um die Symptome seltener Krankheiten zu lindern. Bei Bewegungsstörungen kann beispielsweise eine physiotherapeutische Behandlung helfen, bei Stoffwechselstörungen eine speziell angepasste Ernährung. Seltene Krebserkrankungen können je nach Erscheinungsform mit einer Chemotherapie oder einer Strahlentherapie behandelt werden; einige Fälle erfordern auch eine Operation.
Welche Rolle spielen Organisationen und Selbsthilfegruppen bei seltenen Erkrankungen (Orphan Diseases)?
Viele seltene Erkrankungen nehmen einen chronischen Verlauf und begleiten die Betroffenen über einige Jahre oder lebenslang. Die größten Spezialisten sind daher oft die Erkrankten oder deren Angehörige selbst, die sich durch Fachliteratur und das Internet ein breites theoretisches Wissen aneignen und gleichzeitig praktische Erfahrungen mit Therapien und dem alltäglichen Leben mit der seltenen Erkrankung sammeln.
Wer die Diagnose einer seltenen Erkrankung relativ neu erhalten hat oder sich alleine gelassen fühlt, ist also oft gut damit beraten, sich an eine Selbsthilfeorganisation zu wenden. Andere Betroffene und deren Angehörige können oft Ärzte oder Kliniken empfehlen, die Erfahrung mit der jeweiligen seltenen Erkrankung haben. Außerdem können sie die psychischen Belastungen nachvollziehen, die häufig mit den Krankheiten einhergehen. Oft sammeln sich Betroffene auch überregional in Foren und Communities im Internet.
Wichtige Schlüsselbegriffe um für seltene Erkrankungen ein Bewusstsein und einen fruchtbaren Informationsfluss zu schaffen sind Kommunikation und Vernetzung. So bemüht sich etwa das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) um den Aufbau krankheitsspezifischer Netzwerke: Es fördert den Zusammenschluss von Forschergruppen, spezialisierten Kliniken und Labors, etwa das Netzwerk für Muskeldystrophien, um dauerhaft eine bessere Patientenversorgung zu erreichen.
Ein wichtiges Netzwerk ist die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen e.V. (ACHSE), in der mehr als 90 Selbsthilfeorganisationen und andere Vereine im Bereich der seltenen Erkrankungen gebündelt sind. Die ACHSE ist Mitglied der EURORDIS (European Organisation for Rare Diseases), einer europaweiten Allianz von Patientenorganisationen in Zusammenhang mit seltenen Erkrankungen.
Ein wichtiges Portal im Sinne der Transparenz in Bezug auf seltene Erkrankungen und Orphan Drugs ist Orphanet, ein internationales, jedoch primär europäisches Projekt unter der Koordination eines Teams in Frankreich. Orphanet umfasst ein mehrsprachiges Verzeichnis seltener Erkrankungen sowie von Orphan Drugs in verschiedenen Entwicklungsstadien, eine Aufstellung von Expertenzentren und Fachleuten, eine Sammlung aktueller Forschungsprojekte und vieles mehr.
Empfehlenswert für Betroffene seltener Erkrankungen ist in jedem Fall, Informationen zu sammeln und sich mit Experten und anderen Betroffenen zu vernetzen. So findet man aus dem „Waisenstatus“ heraus und kann sich über mögliche Therapieoptionen informieren und neue Wege entdecken, mit der Krankheit umzugehen.
Weitere Informationen
Orphanet (Plattform für seltene Erkrankungen): www.orpha.net
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